von Wolfgang Pehnt (dwb)
Öffentliche
Diskurse nehmen ihren eigenen, unvorhersehbaren Gang. Dass die beiden
großen Amtskirchen viele ihrer Gebäude nicht mehr nutzen können,
zeichnete sich seit Jahrzehnten ab. Fachzeitschriften und Kirchbautage
haben seit langem darüber diskutiert.
Der Europarat hatte schon
1986 eine Kommission zum Problem der „überzähligen religiösen Gebäude“
eingesetzt, in deren Bericht von tausenden leer stehender, umgewidmeter
oder veräußerter Kirchen die Rede war. Erst als im letzten Jahrfünft
die Bagger auch vor bedeutenden Kirchbauten wie denen von Rudolf
Schwarz und Reinhard Hofbauer in Berlin auffuhren, rückte das Thema der
gefährdeten Kirchen auf die Agenda.
Leere Gotteshäuser Nichts hat sich seitdem
gebessert. Das bauliche Erbe der christlichen Vergangenheit, in
Deutschland etwa 24 500 Gotteshäuser der katholischen Kirche und 21 000
der evangelischen Landeskirchen, ist einer Generation überantwortet,
die vor völlig neuen Problemen steht. Beide großen Konfessionen sehen
sich Entwicklungen gegenüber, die sie in der Substanz treffen. Um 1950
teilte sich die deutsche Bevölkerung paritätisch in Katholiken und
Protestanten. Heute sind knapp ein Drittel Katholiken, knapp ein
Drittel Protestanten, aber mehr als ein Drittel Angehörige anderer
Bekenntnisse – vor allem Muslime - oder Religionslose. Von den
Kirchenangehörigen besucht an gewöhnlichen Sonntagen nicht mehr die
Hälfte die Gottesdienste wie noch 1950, sondern nur noch ein Bruchteil –
in den evangelischen Kirchen 4 Prozent. Demografische Entwicklungen,
Austritte aus den Kirchen, Zuwanderung nichtchristlicher
Bevölkerungsgruppen, die noch immer und schon wieder hohe
Arbeitslosigkeit und Veränderungen im allgemeinen Steueraufkommen
ließen die Einkünfte aus Kirchensteuern dramatisch zurückgehen. Die
Haushaltslage der meisten Diözesen und Landeskirchen ist
besorgniserregend bis desolat. Es
gibt weniger Menschen, und es gibt weniger aktive Christen. Diese
Verluste sind nicht nur eine Sache der Statistik. In den
Zivilgesellschaften der westlichen Welt hat die Kirche ihren
Alleinvertretungsanspruch als sinngebende Instanz verloren, wie er sich
eindrucksvoll in den türmereichen alten Stadtbildern niederschlug. Man
wird nicht mehr wie selbstverständlich in eine religiöse
Schicksalsgemeinschaft mit ihren Sinnangeboten, Heilsversprechen und
trostreichen Ritualen hineingeboren, die jedermann von der Taufe bis zu
den Exequien begleiteten. In Gefahr sind nicht die Kathedralen und
Stiftskirchen, die unsere historischen Städte geprägt haben. Was den
Eingang in Dehios Handbuch der Kunstdenkmäler gefunden hat, ist in der
Regel auf der sicheren Seite. Da kann der Denkmalschutz auch in
Übereinstimmung mit der vorherrschenden öffentlichen Meinung handeln.
In Gefahr sind aber die unscheinbaren Dorfkirchen, die aufwändigen,
historistischen Stadtpfarrkirchen aus dem späteren 19. Jahrhundert
(deren Erhalt besonders teuer kommt) und vor allem die Bauten aus den
zwanziger und frühen dreißiger Jahren und der Nachkriegszeit. Man kann
sich nicht des Eindrucks erwehren, dass bei der Auflassung von Kirchen
eine Aversion gegen die Moderne und die Modernisierungsbestrebungen
innerhalb der Konfessionen im Spiel ist. Das erst in den 1950er Jahren
gegründete Bistum Essen, das eine besonders schonungslose
Öffentlichkeitspolitik betrieben und damit viel Kritik auf sich gezogen
hat, glaubt fast ein Drittel seiner Kirchbauten nicht mehr halten zu
können. Von den fraglichen 96 Kirchen, die in den Verlautbarungen der
Diözese euphemistisch “weitere Kirchen“ genannt werden, sind 73, also
drei Viertel, nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Damals ist zu viel
gebaut worden, als dass es sich nur um kunsthistorisch und
städtebaulich unentbehrliche Architekturen gehandelt hätte. Aber
darunter befinden sich auch künstlerisch und liturgiegeschichtlich
bedeutungsvolle Bauten von Meistern wie Karl Band, Dominikus und
Gottfried Böhm, Gisbert Hülsmann, Josef Lehmbrock, Fritz Schaller oder
Rudolf Schwarz. Anders als die vielteiligen neoromanischen oder
neogotischen Bauten des 19. Jahrhunderts boten die großen, auf den
Altar zentrierten Einheitsräume zeitgenössischer Kirchen der privaten
Innerlichkeit keine Flucht-Räume. Diese Einheitlichkeit - „ein Gott,
eine Gemeinde, ein Raum“ - , die zur Konzentration zwingenden, von
Ornament und Bauzier befreiten Wände und in vielen Fällen der ungeliebte
Sichtbeton mögen zur Ablehnung solcher aus der Liturgischen Bewegung
entstandenen Gotteshäuser geführt haben.
Möglichkeitsorte
Wo Äußerungen zu dem Schicksal der christlichen Kirchen laut wurden,
war der Ton der Klage vorherrschend. Aber wie wäre es, wenn man in
diesen oftmals großartigen Räumen nicht die drohende Gefährdung sähe,
sondern die Chancen? Wenn man sie in erster Linie nicht als bedrohte
Kultstätten betrachtete, die es zu verteidigen gilt, sondern als
Möglichkeitsorte, als Aufforderungen zu Kreativität, als Einladung,
über neue Formen urbaner Ingebrauchnahme nachzudenken? Historische
Stadtpläne und -ansichten zeigen, wie sehr sich in der alten Stadt
Profanes und Sakrales mischten. Die Kölner behaupteten, sie hätten an
jedem Tag des Jahres, 365 mal also, eine andere Kirche aufsuchen
können. Jedenfalls gab es im Weichbild der Altstadt viermal so viele
Sakralbauten wie heute. Die meisten dieser Gotteshäuser - um die
einhundert - verlor die Stadt nicht erst durch den Zweiten Weltkrieg,
sondern durch die Säkularisierung zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Für
Rom zeigt der berühmte Stadtplan aus dem Jahre 1748, den Giovanni
Battista Nolli gestochen hat, die feinkörnige Durchdringung der alten
Stadt mit religiösen Bauten: eine oder mehrere Kirchen, Kapellen oder
Oratorien in jedem Straßengeviert. Nolli machte den Benutzern seiner
Pianta Grande di Roma noch etwas anderes deutlich. In seinen Augen
waren diese sakralen Gebäude Räume der Öffentlichkeit. Er kennzeichnete
sie ebenso wie die allgemein zugänglichen Straßen, Gassen und Plätze
als weiß belassene Flächen, die dem Publikum zur Verfügung standen. Die
eingedeckten Kirchensäle wurden gleichbehandelt mit den Freiräumen
unter offenem Himmel und bildeten mit ihnen ein unwahrscheinlich fein
gewobenes Netz öffentlicher Stadträume. Alles andere, die private
Baumasse des urbanen Rom, ist bei Nolli grau schraffiert: Off limits.
Nollis Analyse bestätigt sich im tatsächlichen Gebrauch historischer
Kirchenräume. Auch in Zeiten ihrer unangetasteten sakralen Nutzung
waren Kirchen öffentliche Orte für viele Zwecke. Sie bargen,
beispielsweise, Bühnen: Aus der Liturgie besonders der Ostertage gingen
geistliche Spiele hervor. In den Narrenspielen nahmen sie groteske
Ausmaße an, flagrante Verstöße gegen unsere heutigen Vorstellungen von
sakraler Würde. Es waren Schauplätze von Rechtshandlungen: Der Lettner,
die Abschrankung des Priester- und Mönchsraums vom Laienraum, war ein
Ort der Gesetzes- und Urteilsverkündung, auch weltlicher Urteile. In
der Lübecker Marienkirche wird eine Kapelle die „Briefkapelle“ genannt,
weil in ihr Notare Urkunden verbrieften. Von Freiburg weiß man, dass
im Chor des Münsters - also nicht einmal im Laienbereich -
Eigentumssachen verhandelt und Versteigerungen nach Schuldfällen
verkündet wurden. Dass staatliche Handlungen wie die Wahl und die
Krönung von Königen und Kaisern in Kathedralen stattfanden, verstand
sich von selbst, da sich in solchen Zeremonien säkulare und sakrale
Funktionen überschnitten. Auch Ratsversammlungen und andere politische
Gremiensitzungen fanden in ihnen statt. Streitgespräche und
wissenschaftliche Dispute hatten seit jeher in Kirchen ihren Ort. Im
Langhaus des Kölner Domes, das bis ins 19. Jahrhundert nicht fertig
gestellt war, wurden mehrmals provisorische Aulen für juristische
Promotionen aufgebaut. Die hochberühmte Biblioteca Palatina, die
kurfürstlich-pfälzische Bibliothek in Heidelberg, war bis zum
Dreißigjährigen Krieg auf den Emporen der Heidelberger
Heiliggeistkirche untergebracht. Aus der karitativen Tätigkeit der
geistlichen Stiftungen ergab sich, dass Kirchen als Orte der
Armenfürsorge wirkten, Tagungsstätten von Bruderschaften darstellten,
als Pilgerherberge dienten, Schutz und Asyl für Verfolgte boten. Die
Kirche war Freistatt, war es noch in den letzten Tagen der DDR. Doch
auch Feste, Bankette und repräsentative Veranstaltungen der
Bürgergemeinden wurden in Kirchen begangen; schließlich boten sie vor
der Errichtung moderner Stadthallen die geräumigsten Säle am Platze.
„Ein Kirchenbau ist nie nur, was er ist“, schrieb der Hamburger
Theologen Fulbert Steffensky. Bei der zunehmenden Säkularisierung der
Gesellschaft sind die einst engen Symbiosen von Sakralbau und Stadt
nicht mehr zu erwarten. Doch für die Vorstädte und Stadtrandsiedlungen,
die Ende des 19. und im 20. Jahrhundert entstanden, übernahmen Kirchen
nach wie vor eine identitätsstiftende Rolle. In Suburbia sind Kirchen
und Gemeindebauten oft das einzige, was Ortskerne bildet. Denn das
Rathaus ist längst der Gemeindereform zum Opfer gefallen, die lokale
Schule ist im entfernten Schulzentrum aufgegangen, die kleinen Läden hat
das Einkaufszentrum zehn Kilometer weiter um ihre Existenzgrundlage
gebracht, und das örtliche Kino wurde zugunsten des Multiplex zwanzig
Kilometer weiter geschlossen. Mit den Kirchbauten sind die individuellen
Biografien der Bewohner in ihren existentiellen Augenblicken
verknüpft: bei Taufe und Firmung oder Konfirmation, bei Hochzeit und
Tod. Nach wie vor leisten Kirchen nicht nur geistliche, sondern auch
soziale Dienste, kümmern sich um Kinder und Mütter, um Jugendliche und
Alte, um Menschen, die aus der bürgerlichen Konvention gefallen sind.
Sie bieten Treffpunkte, Versammlungsorte, Stätten der Begegnung,
Pfarrbüchereien, Konzerte und Ausstellungen. Und sie erfüllen diese
Aufgabe, diese Kultur-Arbeit, mit gestalterischem Anspruch. In den
trostlosen Satellitenstädten am Großstadtrand sind sie oft die einzigen
Orte, die stadträumliche und architektonische Qualitäten bieten.
Was tun mit dem Erbe?
Im Umgang mit aufgelassenen Kirchen hat sich eine Hierarchie von
Maßnahmen eingespielt. Als wünschenswert gilt, nach den kirchlichen
Sondernutzungen wie City-Kirche, Jugendkirche oder Begräbniskirche und
Kolumbarium, die Umnutzung für gemeindenahe Aufgaben. Wenn Grundstücke
aus Kirchenbesitz aufgegeben werden, ist es allemal besser, für soziale
oder karitative Aktivitäten Räume innerhalb der bestehenden
Kirchengebäude zu schaffen, als auf Gotteshäuser zu verzichten und
Nebengebäude zu erhalten. Muss verkauft werden, gilt die Übereignung an
andere, christliche Religionsgemeinschaften als der drittbeste Fall.
Eine Übereignung an nichtchristliche Glaubensgemeinschaften, gar an
muslimische, wird in den Handreichungen der katholischen wie der
evangelischen Kirche ausgeschlossen. Wären frühere Jahrhunderte ähnlich
verfahren und hätten die Tempel und Gotteshäuser beim Wechsel zu einer
anderen Religionsgemeinschaft aufgegeben statt sie ihren Bedürfnissen
anzugleichen, hätten auch Parthenon und Erechtheion nicht überdauert.
Neben karitativen und sozialen Aufgaben der Gemeinden scheint vor allem
in kulturellen Bestimmungen die Rettung zu liegen. Schon nach dem
Zweiten Weltkrieg sind Kirchen in Citylagen, wo Wohnbezirke von Büro-
und Geschäftsflächen verdrängt wurden, zu Museen oder Konzerthäusern
gemacht worden. Aus dem Kontrast zwischen ehrwürdigen alten Gehäusen
und neuen Einbauten ergaben sich reizvolle Lösungen: Bibliothek und
Veranstaltungsräume wie im märkischen Müncheberg, als großer bauchiger
Container dem gotischen Mauerwerk von St. Marien eingepasst. Oder der
Konzertsaal in Neubrandenburg, wo Parkett und Tribüne berührungsfrei in
die Schale einer ehemals dreischiffigen gotischen Halle eingelassen
sind. Doch so viele Kultureinrichtungen werden nicht gebraucht, wie es
überzählige Sakralbauten gibt. Man muss sich bescheiden, wenn auch
weniger gediegene Nutzungen in die nicht mehr benötigten Gebäude
einziehen. In niederländischen Kirchen werden Babybedarf oder
Einbauküchen verkauft, Diskotheken betrieben, fahren Lokalsender ihr
Hörprogramm, richten sich Supermärkte, Sparkassen, Arztpraxen, Kneipen
und Esoterik-Anbieter zwischen Altar und Taufstein ein. Man ist im
nordwestlichen Ausland weniger heikel als bei uns. Dass man in einer
Kirche beispielsweise gediegen speisen kann, ist hierzulande eine
Ausnahme. Soll man solche Profanierungen als Rettung der Bausubstanz
begrüßen, oder ist bereits die Grenze ins Nicht-mehr-Zumutbare
überschritten? Der Bauhistoriker, der weiß, wo Munitionsdepots,
Kasernen, Krankenhäuser, Manufakturen und Proviantlager historisches
Bauwerk vor der Zerstörung gerettet haben, versagt sich jeden Hochmut.
Auch im Kölner Dom, in Revolutionszeiten ein Fouragemagazin, standen
Napoleons Pferde. Verloren ist erst jener Bau, der zu gar nichts mehr
nutze ist, nicht einmal zu einem Pferdestall. Wenn Kirchen seit je auch
als öffentliche Räume wahrgenommen und genutzt worden sind, warum
sollten wir diese Lehre der Geschichte nicht akzeptieren? Im Deutschen
Werkbund hat Roland Günter den Gedanken aufgebracht, aufgegebene
Kirchenräume als öffentliche Räume, als überdachte Piazza in Gebrauch
zu nehmen. In Zeiten, in denen der öffentliche Raum immer mehr aus
Einkaufszentren besteht, wo das Hausrecht des Betreibers gilt, würden
solche frei zugänglichen Schutzzonen an das alte Asylrecht in
Kirchenräumen erinnern. In ihnen könnten sich Aktivitäten, geplant oder
ungeplant, einlagern. Als exterritoriales Terrain könnten sie auch
frei von Nutzung bleiben, in schierem Raumüberfluss. Wer weiß,
vielleicht wird auch die frei schweifende, vagabundierende
Religiosität, die sich anderenorts bei Kirchentagen, Weltjugendtagen
oder Papstwahlen überwältigend Bahn bricht, einmal wieder solche Orte
aufsuchen. Eine solche Politik des Offenhaltens muss man politisch mit
ganzer Kraft betreiben. Denn die amtlichen Hürden in Gestalt von
Stellplatzverordnung, Brandschutz, Versammlungsstättenordnung,
Verkehrssicherungspflicht, Gewerbeaufsicht, Gebäudeversicherung und
sofort liegen hoch. Die Kirchen wären als Träger überfordert. Dazu
müssten sich Partnerschaften zwischen kommunal-bürgerschaftlichem
Willen und privatem Engagement bilden. Friedrich Nietzsche hat den
Wunsch artikuliert: „Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal
der Einsicht, was vor Allem unseren großen Städten fehlt: stille und
weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Bauwerke und Anlagen, welche
als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seite-Gehens
ausdrücken.“ Aber diese „Bauwerke und Anlagen“ sind schon da. Sie
müssten nur genutzt werden.
Prof. Dr. Wolfgang Pehnt
Gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 31.01.2009 vor dem Bayerischen Werkbund in München gehalten hat.
Die Internseite von Prof. Dr. Wolfgang Pehnt:
www.pehnt.de