Durchgrünte Ruhrregion: Industriewald
Von: Robert Bosshard
Im Rahmen des Rückbaus der zurückgelassenen Altlasten und mittels
Reanimation der lahm gelegten Werksgelände, kann man für die Region ein
umweltfreundliches und gleichzeitig entspannt naturnahes Wohnumfeld
realisieren. Industriewald, der die Ruhr-Region durchgrünt.
Industriewald in Dortmund-Huckarde
Völlig klar, in der Folge des Zusammenbruchs der die Region 200
Jahre lang überlastenden Montanindustrie wird nun endlich ein neuer
Zugang zur Kulturhauptstadt Ruhr und der sie prägenden Natur frei. Denn
das durch die vorausgegangene Zersiedlung bereits jetzt wieder
sympathisch diffus durchgrünte Ruhrgebiet macht, wie zur Belohnung für
die zuvor erzwungenen Strapazen, wieder möglich, im Rahmen des Rückbaus
der zurückgelassenen Altlasten und mittels Reanimation der lahm gelegten
Werksgelände, auf einmal ein für die gesamte Region umweltfreundliches
und gleichzeitig entspannt naturnahes Wohnumfeld zu planen und zu
realisieren.
Der panische Konjunktursturm der vergangenen Jahrzehnte, ausgelöst
durch eine neoliberal begründete hysterische Kapitalflucht in so
genannte Schwellenländer, welcher katastrophale Verwüstungen hinterließ
und die härtesten in der Region je vorstellbaren Massenentlassungen
erzwungen hatte, ist mittlerweile Geschichte. Und nun, jetzt, nach dem
abschließenden Feuerwerk der Hauptstadtkulturprotze und deren großen
Gesten, da können endlich die Investitionsströme zur Wiederbelebung der
durch die Politik der vergangenen Jahrzehnten in die Schuldenfalle
getriebenen Kommunen wieder in sozial kontrollierbare und materiell
realistische Kanäle gelenkt werden.
Es geht um die basiskulturelle Erneuerung der gesamten Region, was
natürlich niemals von heute auf morgen passieren kann; jeder politische
Paradigmenwechsel muss als Prozess begriffen, muss über Generationen
reflektierbar und am kleinsten konkreten Schritt gemessen werden: So
wurde beispielsweise vor Jahren schon unter Anleitung kompetenter im
Revier tätiger Förster der Verein „Industriewald e.V.“ gegründet, um die
unzähligen, nach dem gnadenlosen Verschwinden des Kapitals und damit
der Produktionsmittel der Schwerindustrie verwüstet und brach liegen
gelassenen, aber nun bereits wieder in erster Generation von
Pionierpflanzen dicht bewachsenen ehemaligen Werksgelände, von den
betroffenen Stadtverwaltungen als innerstädtische Waldgebiete ausloben
zu lassen.
Das Ziel dieser Bürgerinitiative ist, im Rahmen des „Rückbaus“ der
zuvor völlig überlasteten Landschaft, also zur Entlastung der neu zu
strukturierenden Siedlungsgebiete durch einen sich durch den gesamten
Ballungsraum hindurchziehenden Wald zu bereichern.
Nicht nur, dass mit dieser Entwicklung unter Einsatz erstaunlich
geringer Kosten eine sich selbst generierende regionale
Klimastabilisierung und Landschaftsvielfalt angesprochen wird, vielmehr
ist damit in erster Linie ein hoch komplexes urbanes Modell, ein
Stadtentwicklungsprojekt für sämtliche europaweit unter dem
postschwerindustriellen Strukturwandel leidenden Regionen angeregt
worden.
Diese das Gesicht des Reviers völlig neu definierende Initiative
ist tatsächlich ganz einfach zum Erfolg zu bringen: Es müssen bloß die
verschiedenen Ruhrgebietsgemeinden überzeugt werden, in ihren
Flächennutzungsplänen nicht jedes noch unbebaute Gelände
schatzmeisterlich gewinnbringend als Gewerbe- oder Wohngebiet
auszuzeichnen, und auch nicht jedes wilde Grün ordnungsamtlich zu
bändigen, indem es zur Parkanlage erklärt wird, sondern überkommunal
koordiniert auf diesen vormaligen Industriegeländen innerstädtische
Waldgebiete (Wald im Sinne des Gesetzes, BWaldG von 2010) auszuweisen,
die darin gültig werdenden Nutzungsrechte dem Wohnumfeld entsprechend
abzuwägen, und unter Einbeziehung des Naturschutzes dem
Zuständigkeitsbereich der Forstämter zuzuordnen.
Und schon werden in den ersten derartigen Angeboten völlig neue,
äußerst komplexe, auch informelle, die Kreativität herausfordernde
Nutzungsperspektiven sichtbar. Sie erinnern zunächst an ein „früheres“,
vielleicht dysfunktional ländliches, eben für Kinder und Jugendliche
abenteuerliches, für Ältere erholsames naturnahes Landschaftsangebot,
aber in bewusster Gestaltung als unterdeterminierte Frei- und Stadträume
könnten sie ähnlich den Londoner Common Greens auch völlig neuartige
Stadtqualitäten entwickeln.
Natürlich macht es die Werbetrommel der vom Konsummarkt
finanzierten Massenmedien nicht leicht, die potenziellen Nutzer, die
konkret und lokal am Industriewald lebenden Bewohner und deren Schulen,
für diese Idee der Wiederverwilderung des unmittelbaren Wohnumfelds zu
gewinnen, sie über das jedem partiellen Kontrollverlust immanente
emanzipatorische Potenzial aufzuklären, ihnen, entgegen der von des
Versicherungsanstalten suggerierten gewaltigen Bedrohungspotenzials
außerhalb der videoüberwachten öffentlichen Zonen, zu beweisen, wie
angstfrei bei respektvollem Umgang und umsichtiger Pflege man auch im
innerstädtischen Raum die Natur regieren lassen kann.
Was für ein Chance für die zukünftige Provinz Ruhr, wenn hier der
Mythos Wald aktuell neu und lustvoll als Herausforderung besetzt und
kulturell integriert werden kann, sei es als von Neugierde und
Kenntnissen getragene Erlebniswelt oder organisiert zur naturnahen
Begegnung.
Wird aber endlich der Industriewald als neues städtisches Element
allgemein akzeptiert werden, so kann bald schon dieses regionaltypische
Wohnen zu einer zentralen Attraktion des Lebensraums an der Ruhr werden,
wird damit auch seine Bevölkerung davor geschützt, auf der Flucht aufs
Land sich verlieren zu müssen, um Natur zu erleben. Wunderbar, wenn man
so dem stadtplanerischen Ideal näher kommt, die abgebrühte
Kulturrhetorik modernistischer Meinungsführer dialektisch mit der rohen
Naturerotik intimer Kulturerlebnisse in Beziehung zu bringen.
Aber zu allererst muss man sich „natürlich“ mit den abstrakten und
globalen, also von weit her geholten finanzsystematischen Einwürfen
herumschlagen.
Immerhin gehört die Mehrzahl der frisch bewaldeten
Landschaftsepisoden der Region gar nicht den Kommunen. So hat
beispielsweise der Konzern Ruhrkohle AG auf seinem Gelände hinter
Schacht 2 der aufgegebenen Zeche Hugo in Gelsenkirchen-Buer,
hochgerüstet mittels Gefälligkeitsgutachten und durch Lobbyvertreter
abgesichert, den inmitten lebendiger und durch komfortable Sanierungen
aufgewerteten Wohngebieten liegenden wiederverwilderten Industriewald am
Rand des Freizeitparks Rungenberghalde in diesen Tagen gerade rüde
gerodet, um an dessen Stelle einen so genannten Biomassepark zu
installieren.
Darunter wird eine hochspezialisierte Gehölzzucht verstanden, in
der zu extrem schnellem Wachstum manipuliertes Naturmaterial rein
maschinell und voll automatisiert zu einer Kurzumtriebs-Plantage
zusammengefasst wird. Mittels einer derart maximal verdichteten
Bepflanzung im Labor hergerichteter baumartiger Gewächse mit hohem
Stockaustrieb zwecks routinemäßigen Kahlschlags alle vier bis acht
Jahre, soll ein am Rand dieser Zucht zu bauendes Kleinkraftwerk befeuert
werden.
Obwohl diese Investition weder stadtplanerisch noch aus
klimatischen Gründen auf dieses inmitten städtischer Wohnsiedlungen
liegende Gelände gehört, und auch für eine derartige
Energieproduktionsstätte objektiv viel zu klein ist (22 ha, das heißt,
es wird zur Auslastung des Kraftwerks massiv Holz angeliefert werden
müssen), wird das Unternehmen von der Landesregierung als Pilotprojekt
für alternative Energiegewinnung gefeiert und subventioniert (und das
unter seiner Schuldenlast erblindete Gelsenkirchen scheint froh zu sein,
dass in der Stadt überhaupt noch etwas passiert).
Warum aber gerade hier, wo doch erst noch ein vielfältiges Biotop
sich erfolgreich gegen die Unbill des verseuchten Bodens zu behaupten
begonnen hatte?
In der Außendarstellung wird gesagt, vor dem
Hintergrund des Atomausstiegs sei dies ein viel versprechendes Vorhaben
zur Einführung erneuerbarer Energien in das Geschäftsmodell der frisch
ergrünten Ruhrkohle AG.
Nach innen hingegen wird argumentiert, das Aktiengesetz würde den
Vorstand verpflichten, aus seinem Betriebsvermögen den maximalen Gewinn
zu erwirtschaften, natürlich auch unter Einwerbung öffentlicher
Subventionen, sprich Steuergeldern. Das war’s: der Biomassepark wird
voller Macht realisiert, exakt nach der Methode, wie zum Beispiel in
Äthiopien, unterstützt von Weltbank und Regierung, legitimiert durch den
erwirtschafteten Gewinn, fremdfinanzierte Agrargroßkonzerne den
Bewohnern ihr Land wegnehmen, Wälder abbrennen und die hungernden
Einwohner in provisorische Notunterkünfte vertreiben, so funktioniert
nun mal das etablierte Finanzsystem.
Oder gibt es, zum Schutz vor derartigen Fehlentwicklungen, als
Grundrecht nicht auch einen gemeinnützigen Zugriff qua Enteignung? Oft
geltend gemacht bei Autobahnneubauten, Schnellbahntrassen und
Cityerweiterungen zwecks Sanierung von Infrastrukturen? Warum also nicht
auch zugunsten des Industriewalds Ruhr? Für jenes zusammenhängende
Waldstück, welches sich bis zu 50 Kilometer lang als Patchwork durchs
Mittelland des postschwerindustriellen Ballungsraums mit fünf bis sechs
Millionen Einwohnern ziehen könnte?
Es müsste im Namen der Erneuerung des vormals industriell
belasteten Wohnumfelds geschehen, also explizit zugunsten der
Wohnbevölkerung, betont verbunden mit Natur- und Artenschutz,
pädagogischen Programmen, Erholungsangeboten und systematischen
Messungen der Stadtklimata.
Der Vorstand der RAG könnte im Rahmen der Enteignung den Freiraum
um Schacht Hugo profitlos der Wiederverwilderung überlassen, ohne sich
eines Gesetzesbruchs schuldig zu machen, auch wenn das, nun vernünftig
ausgelobte Gelände, für den Konzern nur noch den Preis einer
naturgeschützten Brache realisierte.
Tatsächlich, auch in diesem Fall kann das Geschehen nicht dem
anonym gesteuerten Marktgeschehen überlassen werden, sondern ruft nach
konkret verantworteter Politik, von Ortsteil zu Ortsteil nach dem
öffentlichen Kampf für eine bevölkerungs- und naturnahe Sanierung der
Agglomeration der so wunderbar unterschiedlichen und doch miteinander
verbundenen Kulturstädte der Ruhrregion.